Mittwoch, 19. August 2009

Im Kona des Nordens

D-Day, reloaded

Danke, es geht schon wieder. Ärger und Enttäuschung sind weitestgehend verschwunden, die Schmerzen auch. Zeit, die Ereignisse noch einmal richtig nachzuvollziehen.

Alles beginnt in der voll belegten zum „Tricamp“ umfunktionierten Schulturnhalle in Eidfjord. Es ist doch noch spät geworden, erst gegen 23:30 kommen wir zur Ruhe. An Schlaf ist kaum zu denken, um 2:00 piepen die ersten Wecker und jemand knipst das Licht an. Es dauert nur wenige Minuten, bis ich in der Gemeinschaftsküche ein paar Plastikbecher voll Haferflocken löffle, alles ohne Kaffee. Dann ist schon Eile angesagt, Wettkampfhose an, Neopren drüber und ab mit den Rad runter zum Hafen, Susanne mit Auto und Ausrüstung hinterher.

Im Hafen bekomme ich die erste Gänsehaut. Nicht vor Kälte, nein der Morgen ist fast mild, sondern vom Anblick der beleuchteten „Melderskin“, der mittlerweile legendären Autofähre, die die Starter um Punkt 4:00 Uhr 3,8 km in den Fjord hinaus schippert. Die Atmosphäre ist unbeschreiblich, im Dunklen wuseln überall Gestalten hin und her, die ihre Räder einchecken, die Wechselplätze herrichten. Eidfjord ist sicherlich das Kona des Nordens, wenn auch ungleich sympathischer! Hier findet kein Hochglanzrennen statt, sondern wirkliches Abenteuer.

Eh ich alles richtig realisiere, habe ich meine Sachen beisammen und befinde mich plötzlich an Bord der Fähre, dieser Fähre, die ich von Bildern und aus Filmen schon in- und auswendig zu kennen glaube. Als dann die Motoren anspringen und wir uns bestürzend schnell vom Ufer entfernen, habe ich doch einen dicken Kloß im Hals. Verwegen stelle ich mich an die Reling, teils um der Familie und Supportcrew zu winken, teils um zu sehen, wie tief unten das Wasser denn nun wirklich ist. Schließlich habe ich mir vorgenommen, dass der „Chicken Exit“ keine Option darstellen sollte. Lukas hat mich vor dem Einchecken noch mit dem nicht ganz ernst gemeinten „Band of Brothers“ - Zitat: “Wir sehen uns dann in der Landezone“ auf den Weg geschickt. Nicht umsonst habe ich, haben wir, die Startnummer 101! Nun, so ähnlich fühle ich mich jetzt. Unwiderruflich auf dem Weg in ein Abenteuer, dessen Ausgang mehr als fraglich scheint.

Nach einer endlosen Stunde wird es plötzlich sehr schnell sehr ernst. Die Motoren sind nun stumm, die Bugklappe wird heruntergelassen. Um mich herum drängt es nach vorne. Durch die alberne dicke Neoprenkappe gedämpft höre ich das dumpfe Klatschen der ersten Springer. Mit meinem Vorwärtsstreben der offenen Klappe näherkommend, beginne ich, mich wie in „Der Soldat James Ryan“ zu fühlen. Nun ist die Sekunde der Wahrheit da, ich stehe vorne am Rand. Wirklich zu springen ist aber doch etwas Anderes, als nur runterzusehen, das Herz rutscht mir in die Tiefen der Neoprenbeinkleider. Den Flug nehme ich kaum war, sofort ist alles um mich herum grau und voller Luftblasen. Gott sei Dank bleibt der befürchtete Kälteschock aus, das Wasser hat komfortable 17°. Als ich nach einiger Zeit wieder an der Oberfläche bin, muss ich mich schon beeilen, um an die Startlinie zu kommen, da geht auch schon das Schiffshorn los, das Startsignal.

Nun schwimme ich also. Die Orientierung fällt mir schwer. Man hat uns gesagt, die ablaufende Tide und die Gegenströmung aus der Flussmündung wirkten sich nahe des Ufers am geringsten aus. Irgendwie gelingt es mir jedoch nicht, Kurs zu halten, ich schwimme überall hin und her, frage mich, ob ich mich noch im richtigen Fjord befinde. Der Rest ist unspektakulär und schnell erzählt. Irgendwann spült es mich an Land. 1:44h, na, da war ich schon länger im Wasser (wenn auch nur zweimal...), geht. Bin im Plan, der da grob vorsieht: Nach 2 Stunden auf dem Rad, nach 10 Stunden in T2, dann hätte ich 4,5 Stunden bis Checkpoint 32,5. Müsste doch gehen. Die Wirklichkeit sieht aber nun mal anders aus...

Da ist nämlich erstmal die alte Touristenstraße nach Dyranut. Nicht die neue, die die steilsten Felsen elegant durchtunnelt, sondern eben die alte, die gerade so mal oben drüber geht. 35 km bergauf, von 0 auf 1250 m. Hätte man sich ja ausrechnen können, dass das nicht lustig wird... Bei km 18 fahre ich schon auf dem größten Ritzel, das ich habe. Wirklich unangenehm ist der Wind, der sich (von wo? Natürlich von vorn) überall da einstellt, wo die Steigungsprozente nachlassen. Bis Dyranut nimmt er an jeder Ecke zu. Erstmal nur bis Dyranut...
Hier ist der erste vereinbarte Verpflegungstreff mit meiner Supportcrew. Noch lange danach schwärmt man mir von dem Frühstück in Dyranut vor, das leider zu kurz ausgefallen sei, weil man ja auf mich habe achten müssen. Dabei habe ich nicht einmal einen Kaffee bekommen... Dafür aber mein vorbereitetes Polarbröd mit Nutella. Gestärkt und beruhigt über das schon fast nicht mehr erwartete Ende der Steigung rolle ich weiter.

Die Hardangervidda, Schauplatz der nächsten 50 oder so km bis Geilo, ist eine fast unwirkliche Gegend. Man wähnt sich ununterbrochen, wie schon in der Felswand vorher, in einen Fantasyfilm versetzt (die Formulierung habe ich sinngemäß im Tritalk.uk-Forum gelesen und sofort geklaut, weil sie so schön wahr ist...). Vor allem die Passage des Hardangerjökull, des riesigen Gletschers, sprengt das Fassungsvermögen. Der Abschnitt wurde im Vorfeld vom Veranstalter als der schnelle Teil der Radstrecke bezeichnet. Nun gut, schneller als 10% bergauf ist das schon, der Wind lässt den Unterschied selbst auf den reinen Gefällstrecken aber unangenehm gering ausfallen. Ich wage die erste Hochrechnung der Radzeit. Ernüchterndes Ergebnis: ich bin keineswegs auf 8-Stunden-Kurs sondern vielmehr Richtung 9 Stunden unterwegs. Das würde bedeuten, dass ich nach 11 Stunden Rennzeit in Austbygde wäre und mir wohl den 32,5 km-Checkpoint aus dem Kopf schlagen könnte, da nicht zu erwarten ist, diese Strecke in 3,5 Stunden zu schaffen. Ich versuche, mich zu beeilen, fühle mich gegen den Wind aber, als kämpfte ich gegen Windmühlen. Zudem spüre ich durch das unentwegte Drücken schon sehr bald ein unangenehmes Ziehen in beiden Knien. Im Übrigen hindert mich ein vom Neo total aufgescheuerter Hals am Heben des Kopfes. Ungünstige Lage also.

Nach Geilo kommen sie dann , die „3 major climbs“. Den vierten, dann wohl „King size“, lässt man in dem Zusammenhang gerne mal unter den Tisch fallen, doch dazu später. Eigentlich sind die Hügel, jeder für sich, gar nicht so schlimm. Nicht sooo lang und nicht sooo steil. Nur ca. 4 km mit ca. 7%. Na und der dritte hat dann noch dieses mit 2-4% etwa 6km ansteigende Stück dran. Im Schritttempo schleiche ich Umdrehung für Umdrehung die Rampen hoch, liefere mir dabei Schneckenrennen mit immer der gleichen Handvoll Athleten, die alle ein ähnlich verzweifeltes Tempo fahren, immer kurz vorm Absteigen. Langsam erst, dann immer schneller weicht der Spaß stiller Verzweiflung.
Das Schlimmste ist aber, dass weiß ich vom Hinweg gestern, der Weg hoch zum Immingfell, 10 km bei 7-10%. Tut das weh zu diesem Zeitpunkt! Ich bekomme Angst, die Kurbel nicht mehr herumzubekommen und umzukippen. Den Anderen scheint es nicht anders zu gehen. Manche schieben. Höhepunkt der Grausamkeit: Oben auf dem Immingfell noch einmal 10 km gegen den Wind. Mittlerweile fahre ich in der Ebene eine Bergübersetzung von 39/21. Das letzte Polarbröd will gar nicht mehr so richtig runterrutschen, ich schicke Susanne und die Crew vor zur Wechselzone, denn nun folgen 30 km Abfahrt, auf einer Strecke, deren Qualität ich auf dem Hinweg als „nicht fahrbar“ beurteilt hatte. Geht aber doch, halb so schlimm. Nach 8:59 h trudele ich in T2 ein. Präzise vorausgesagt, im Ergebnis aber natürlich unerwünscht. Mein Rücken rät mir, jetzt sofort komplett aufzuhören. Mein Kopf auch.

Erstens aber bin ich Westfale und damit so stur und unflexibel, dass es mehr braucht, als ein paar innere Stimmen, um mich von einem einmal gefassten Entschluss abzubringen, zweitens wartet Lukas schon mit MTB und voller Supportausrüstung, um mich beim Laufen zu begleiten. So war es ausgemacht, da möchte ich nicht enttäuschen. Also humpele ich, den Rücken krumm und schief, qualvoll langsam los.
Was ich übrigens im seit dem 2007er Bericht im „Trilife“-Magazin für T2 legendären Klowagen vorfand, werde ich gnädig hier und für immer verschweigen. Nur soviel: es war nicht der Honigeimer...
Als ich die unebene Wiese der Wechselzone verlasse und auf Asphalt laufe, legen sich die Schmerzen. Unter Lukis vorbildlicher Versorgung schaffe ich es sogar das Lauftempo auf einen 6er Schnitt anzuheben.

Ich hatte gleich zu Laufbeginn erklärt, dass wir das schwarze T-Shirt und die Besteigung des Gaustatoppen, für uns eigentlich Kernpunkt unseres Norseman-Mythos, wohl nicht erreichen würden und dass das Lauftempo an irgendeinem Punkt sich zum Gehen reduzieren müsste. Lukas nimmt es mit Fassung. Spätestens, als wir bei km 20, längst muss ich da schon seit 4 km gehen, den Gaustatoppen in seiner geradezu provokant irrwitzigen Größe vor uns sehen, ist er genauso dankbar wie ich, nicht hoch zu müssen. Denn soweit bin ich zu dem Zeitpunkt.

Susanne hatte uns bei km 16 mit dem Auto eingeholt. Bis dahin hatte ich sogar eine ganze Reihe Athleten vor mir noch überholt, so auch einige im Laufe der letzten 2 Tage persönlich kennen gelernte Forumkollegen von Tritalk.uk. Nicholas, den gelben Piraten zum Beispiel oder Ed, den Marlene wegen seiner auffälligen Radbrille „Pinky Brill“ genannt hat. Nach einer kurzen Verpflegungspause am Auto ist der befürchtete Moment dann da: Mission impossible, kein Laufen mehr möglich. Ob auch physisch oder nur mental, weiß ich auch heute noch nicht. Ich beginne, zu gehen, und alle kommen sie wieder an mir vorbei. Mir egal. Punkt.
Was mich nun zu beschäftigen beginnt, sind die Distanzen, die noch vor mir liegen. Auf Hawaii hatte ich nach einem ähnlichen Tief wieder in den Lauf gefunden und mich noch einigermaßen beeilen können. Hier völlig undenkbar. Vor mir liegen noch 16 km, davon 7 mit einer Steigung von ca.10%. Und das ist nur die Strecke bis zum Checkpoint. Die dann folgenden 10 km verdränge ich zunächst erfolgreich.
Bei km 26 stößt Marlene zu uns, 2 km weiter steigt Lukas, dem dann doch so langsam die Füße brennen, ins Auto zu Ute und Susanne. Seinen Job hat er aber nun auch wirklich getan. Ohne die Trinkflaschenversorgung und Mützenkühlung während der Laufphase oder die Unterhaltungen beim gemeinsamen Gehen wäre ich vielleicht noch gar nicht hier.

Marlene übernimmt das Kommando. Munter plaudernd lässt sie mir keine Chance zum Selbstmitleid und treibt mich den Berg hoch. Meine plakativen Selbstzweifel beantwortet Sie nonchalant mit der Androhung von Schlägen, wenn ich nicht sofort damit aufhören sollte, meine Leistung schlecht zu reden. Trotzdem fühle ich mich schrecklich, als hätte ich das Rennen bereits aufgegeben. Die Zeit beachte ich schon lange nicht mehr. Endlos hat sie sich allemal hingezogen, als dann tatsächlich der Checkpoint auftaucht. Einen Moment überlege ich, mich als Inhaber einer Sonderlizenz des deutschen Botschafters zur Gipfelbesteigung auszugeben...
Nun, spätestens jetzt muss ich mich mit dem Gedanken beschäftigen, wie die letzten 10 km zu bewältigen sind. Gelaufen wird eine ca. 3,5 km lange Wendepunktstrecke zum Hotel Gaustablikk, zurück zum Checkpoint und wieder hin ins Ziel. Das Problem an dieser einfach anmutenden Anweisung wird spätestens hinter der nächsten Kurve klar: die Vorstellung, die Zufahrt zum Gaustablikk sei flach, ist eben nur eine Vorstellung, die Strecke windet sich bergauf und bergab den Berghang entlang. Ich beschließe, noch einmal zu laufen. Marlene bleibt an meiner Seite, scheint überhaupt nicht müde nach ihrem Triathlondebut gestern. An den Steilstücken muss ich doch weiter gehen, sonst finde ich tatsächlich in einen passablen Laufrhythmus.
Jetzt wird es noch einmal spannend. Ich kann so einige, die vor 16 km an mit vorbeigezogen sind, schließlich doch noch überholen. Spannende Positionskämpfe im Schneckentempo...
Auf den letzten Kilometern stoßen Susanne, Ute und Lukas mit dazu und in vorbildlicher V-Formation fliegen wir dem Behelfsziel entgegen. Als ich nach 17:42 (!) Stunden Renndauer endlich auf dem Parkplatz des Gaustablikk stehe, bin ich vollkommen leer. Überglücklich, endlich angekommen zu sein, dazu das erste Mal gewissermaßen mit Familienbegleitung, aber maßlos enttäuscht, nicht auf den Gaustatoppen gedurft zu haben. Mir ist bewusst, dass solch ein Denken nicht dem Geist des Norseman entspricht, aber das hilft mir nicht.
Ich will nichts mehr von diesem Rennen hören. Schnell zurück zum Wohnwagen und alles vergessen. Außerdem hat Susanne morgen Geburtstag.
Am nächsten Morgen hole ich mir mein weißes T-Shirt , schwänze Siegerehrung und Gruppenfoto. Ich weiß gar nicht, wie ich mich fühlen soll. Immerhin habe ich ganz nebenbei mal wieder einen Ironman vollendet, dazu den laut Veranstalter zweithärtesten der Welt, nämlich das Rennen um das weiße Norseman-Shirt. Trotzdem fühle ich mich, als hätte ich aufgegeben.

Mittlerweile sind 10 Tage vergangen. Am dritten Tag war ich bereits überzeugt, irgendwann einmal wiederzukommen. Jetzt mache ich schon konkrete Pläne für 2011. Ich habe mich gewissermaßen mit mir und dem Norseman versöhnt.

Es gibt nämlich keinen anderen Triathlon.
No sleep ´til Gausta!
Currahee!